Die Macht des Wortes oder:
Was hat die Bezugsrahmentheorie mit dem STREET COLLEGE zu tun?


Die Bezugsrahmentheorie (BRT) – oder auch Relational Frame Theory – wurde vom US-Amerikanischen Psychologen und Psychotherapieforscher Steven C. Hayes und dem Psychologen Prof. Dermot Barnes-Holmes entwickelt. Im Mittelpunkt der Theorie steht die menschliche Sprache und Kognition. Im weitesten Sinne handelt es sich hierbei um eine Lerntheorie. Seit Dezember 2019 findet am STREET COLLEGE ein Forschungsprojekt statt, angelehnt an die BRT-Theorie. Die Studierende und Dozent*innen werden dabei in Interviews befragt.

Worte erzeugen Bedeutung

Wenn wir aufwachsen, lernen wir ganz automatisch, dass bestimmte Laute eine Bedeutung haben. Wenn jemand „Tisch“ sagt, denken wir an einen Tisch, wenn du das Wort „Ball“ hörst, hast du einen Ball vor Augen usw. Das klingt zunächst ganz normal und geradezu banal. Wenn wir uns jedoch bewusst machen, dass wir durch Sprache unsere Welt erschaffen, können wir sie und uns verändern. Besonders interessant wird es nämlich, wenn wir begreifen, dass Worte maßgeblich an der Entwicklung unseres Selbstkonzeptes beteiligt sind.

Bedeutungen beeinflussen unsere Sicht (auf uns selbst und andere) und unser Handeln

Stelle dir vor, jemand sagt zu dir: „Ich mag dich.“ Eigentlich stößt dieser jemand bloß Laute aus. Doch du stellst einen Bezug her, vom Wort „ich“ über das Wort „mag“ bis zum Wort „dich“. Dieser Satz und diese Bezüge haben unter Umständen großen Einfluss auf deine Stimmung, vielleicht sogar auf deinen Selbstwert und dein zukünftiges Verhalten. Viele Schüler*innen machen im Schulalltag die Erfahrung, dass Lehrer*innen Sätze sagen, durch die die Schüler*innen Bezüge zu sich selbst herstellen, die sie in ihrer persönlichen Entwicklung hemmen. Solche Sätze sind z.B.:
„Du wirst niemals Abitur machen“, „Du bist zu frech“, „Du bist ein Fall für die Schulpsychologin“, bis hin zu „Du bist kein richtiger Mann“ usw. Diese Sätze stammen von Schüler*innen, die sich innerhalb des aktuellen Forschungsprojektes am STREET COLLEGE an Äußerungen ihrer Lehrer*innen erinnern sollten.

Wie ist die Veränderung der Bezugsrahmen möglich?

Am STREET COLLEGE wird den Lernenden die Möglichkeit geboten, ihre persönliche Entwicklung – die in der Schule gehemmt wurde – nicht nur fortzusetzen, sondern ihr volles Potenzial zu entfalten. Wie funktioniert das?

Es wäre naheliegend zu sagen, dass Studierende am STREET COLLEGE von Dozent*innen eben positive Sätze gesagt bekommen, dadurch mehr Selbstvertrauen gewinnen und sich schließlich an ihre ursprünglichen Ziele wagen oder diese (wieder) entdecken. Doch wie wahrscheinlich jeder aus eigener Erfahrung weiß, bringt das „Einreden“ positiver Affirmationen nichts, wenn man nicht an deren Inhalt glaubt. Demzufolge ist die Haltung der Dozent*innen den Studierenden gegenüber maßgeblich. Dazu gehört vor allem das Vertrauen der Dozent*innen – der eben angesprochene Glaube an Positivität – in das Vorhandensein des Potenzials der Studierenden. Damit verbunden ist auch Geduld, die oft als „Aushalten“ empfunden wird.

Geduld ist eine Eigenschaft, die bisher alle Studierenden, die am laufenden Forschungsprojekt teilgenommen haben, als besonders wichtig für ihren erfolgreichen Lernprozess benannten. Die Begleitung persönlicher Entwicklung geschieht also vorrangig nicht durch verbale positive Verstärkung, sondern durch eine vertrauensvolle, offene und nichtwertende Haltung. Wichtig ist: Offenheit und Nicht-Wertung bedeutet auch, dass am STREET COLLEGE kein „Entfaltungszwang“ herrscht – selbstverständlich gibt es die Möglichkeit, sich dafür zu entscheiden, sich schlichtweg nicht entfalten zu wollen. Am Potenzial ändert das allerdings nichts. Essentiell ist außerdem, dass nicht nur die Dozent*innen die Studierenden während ihrer persönlichen Entwicklung begleiten, sondern auch vice versa. Eine Eigenschaft, die in der Studierenden-Haltung besonders hervorsticht, ist Authentizität, mit der sie den gesamten Lernprozess und die Entwicklung der Dozent*innen bereichern.

Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Haltung und Sprache?

Die Haltung der Dozent*innen und Studierenden drückt sich einerseits im (nonverbalen) Verhalten aus, andererseits in direkter Sprache, durch die neue Bezüge zur eigenen Person, aber auch zu anderen hergestellt werden können. Ein wichtiger Bestandteil ist jedoch auch das Zuhören. Jemand, der zuhört, zeigt subvokales sprachliches Verhalten, das die Möglichkeit bietet, neue Bezugsrahmen herzustellen, ohne dass die Ansichten eines anderen diesen Prozess aktiv steuert oder sogar forciert.

Durch die gemeinsame Sprache der Geduld, Offenheit, Authentizität und Nicht-Wertung entsteht Raum für Wachstum, der sich in radikaler Bedarfsorientierung ausdrückt.

Die Datenerhebung im STREET COLLEGE läuft noch bis Ende August.

Text von Victoria Bindrum